Direkt zu:
Neujahrsempfang der Stadt Alzenau (5)
Stadtplan Notdienste 📰Formulare PParkplätze 🌄Webcam

Gedenkfeier für unsere ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger am 9. November 2016

Am 9. November 2016 fand vor dem Rathaus die Gedenkfeier für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die anschließend im Rathausfoyer fortgeführt wurde, statt. Hierzu führte Bürgermeister Dr. Alexander Legler Nachfolgendes aus:

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
im Namen der Stadt Alzenau begrüße ich Sie alle sehr herzlich zu unserer Gedenkstunde, mit der wir auch in diesem Jahr der sechs Millionen Opfer des Holocaust gedenken wollen, im Besonderen unserer ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die auch bei uns unter dem Nazi-Terror gelitten haben, die verfolgt, von hier aus deportiert und ermordet wurden.

Wir haben uns hierzu eingefunden in der Mitte unserer Stadt - dort, wo einst jüdisches Leben seinen Platz hatte, nämlich mitten unter uns - jüdisches Leben, das in unserer Stadt bis mindestens in das 17. Jahrhundert zurückreicht, eine Quelle erwähnt hier bereits das Jahr 1337. Bis heute Zeugnis über jüdisches Leben in unserer Stadt geben der jüdische Friedhof im Stadtteil Hörstein sowie die Gedenktafeln in Hörstein und Alzenau, die seit 1994 bzw. 1988 an die jüdischen Kultusgemeinden und Synagogen erinnern. 2012 haben wir an dieser Stelle die zentrale Gedenkstätte unserer Stadt der Öffentlichkeit übergeben.

Mein besonderer Gruß gilt dabei Rabbiner Shlomo Raskin, der Sie, verehrter Rabbiner, mit uns erneut unsere Gedenkstunde mitgestalten, wofür ich mich herzlich bedanke und was uns zugleich Ausdruck großer Wertschätzung und Anerkennung ist für unsere Form der Erinnerung an das grausame Schicksal unserer ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie aller Opfer des Holocaust.

Gemeinsam haben wir damals diese Gedenkstätte übergeben, die für uns nicht nur ein Ort der Erinnerung ist, sondern immer auch ein Ort der Mahnung - Ermahnung an uns, und nachfolgende Generationen stets dafür Sorge zu tragen, dass sich die nicht in Worte fassbare Barbarei der Vergangenheit niemals mehr wiederholen kann. Das heißt auch, dass wir alle aufgerufen sind, immer wieder aufzustehen gegen den nach wie vor in unserem Land sowie vielfach auf der Welt vorherrschenden und zum Teil offen und ungeniert gezeigten Antisemitismus, gegen jegliche Form von Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Unser Gedenken eröffnet damit nicht nur einen Blick in die Abgründe unserer Vergangenheit, sondern ist stets auch auf die Zukunft gerichtet.

Und das bedeutet zugleich, unserer Erinnerungskultur im Hinblick auf den Holocaust regelmäßig Ausdruck zu verleihen und sie auch in Zukunft mit Leben zu erfüllen, und das jeweils zum 9. November, als der Beginn der seinerzeit staatlich organisierten Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, die sich in dieser schändlichen Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 überall im Land ereignet haben.

Diese Nacht bezeichnete Bundespräsident Roman Herzog in seiner Berliner Rede vom 9. November 1998, die er aus Anlass des 60. Jahrestages der Synagogenzerstörung gehalten hatte, als „[…] das deutlichste Signal für die sozusagen staatsoffizielle Verrohung der öffentlichen Sitten“. Weiter führt er aus: „In der Rückschau wissen wir, dass das ein Wendepunkt war von der Diskriminierung hin zur Deportation und schließlich zur Vernichtung.“

Heute stehen wir hier, um an die Opfer dieser bestialischen Vernichtung zu erinnern. Öffentlich und damit für jedermann sichtbar wenden wir uns gegen jegliches menschenverachtendes Gedankengut, das immer wieder zu schändlichen Angriffen, Hasstiraden und Attentaten führt, v. a. gegen Menschen jüdischen Glaubens. Ein öffentliches Aufbegehren hiergegen in Form deutlicher Worte oder klarer und unübersehbarer Zeichen ist nur selten zu vernehmen.

Unser regelmäßiges Gedenken formuliert deutliche Worte. Und bereits die Entscheidung zur Errichtung dieser Gedenkstätte war ein klares und unübersehbares Zeichen unseres friedlichen Aufbegehrens gegen ein solches Verhalten. Sie war zugleich der Anstoß zum Beginn unserer Erinnerungskultur an dieser Stelle.

Der Entscheidung hatte sich ein Gestaltungswettbewerb angeschlossen, den die aus Wargolshausen stammende Künstlerin Eva Warmuth mit ihrem Entwurf einer Himmelsscheibe mit den darin eingravierten Namen der Opfer der Nazizeit aus unserer Stadt für sich entscheiden konnte und damit uns eine besondere Form des Erinnerns und Gedenkens in unserer Stadt geschaffen hat. In unserer Stadt, die sich mit dem alljährlichen Gedenken am 9. November auch ganz bewusst der dunkelsten Seite ihrer Geschichte stellt.

Denn 12 Jahre der Erniedrigung, grausamer Verfolgung und Terrorherrschaft durch die Nationalsozialisten führten auch bei uns zu einer vollständigen Auslöschung der jüdischen Kultusgemeinden in Alzenau und Hörstein - jüdisches Leben war damit nicht mehr existent. Diese grausame Tatsache darf ebenso unvergessen bleiben wie die Tatsache, dass in unserer Stadt, jüdisches Leben aktiver Teil der örtlichen Gemeinschaft gewesen ist mit einst hoch verdienten und anerkannten Persönlichkeiten, für die beispielhaft Benzion Wechsler, seinerzeit Lehrer, Dirigent und Vereinsfunktionär, genannt werden muss.

Mit unserem Gedenken wollen wir ihm und allen ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ihre Heimat, und im Besonderen auch ihre Würde und Persönlichkeit zurückgeben, die ihnen die braunen Schergen auf das Schändlichste genommen haben. Ihnen ihre Würde und Persönlichkeit zurückzugeben, und sie damit zugleich wieder in die Mitte unserer und ihrer örtlichen Gemeinschaft zurückzuholen, aus der sie einst auf so grausame Weise gerissen wurden, ist und bleibt uns eine dauerhafte Verpflichtung, der wir uns mit unserem jährlichen Gedenken stellen.

Mit unserem Gedenken stehen die Opfer als Sieger über den Tätern. Mit unserem Gedenken wollen wir auch an das unfassbare Leid der Familien der Opfer des Holocaust erinnern.

Die Gedenkstätte steht zudem als Mahnung und Aufforderung an uns und alle nachfolgenden Generationen, nicht nachzulassen, in unserem Eintreten für ein friedliches Miteinander der Völker, Religionen und Kulturen.

Wir wollen uns auch in Alzenau zu unserer Vergangenheit bekennen und uns der daraus folgenden unumstößlichen und dauerhaften Verantwortung stellen, damit sich der Holocaust niemals mehr wiederholen kann. Auf diese Weise wollen wir auch einen Beitrag leisten zum Frieden und zur Aussöhnung. Und wir wollen ein Zeichen setzen der Solidarität mit Israel und jüdischem Leben weltweit sowie mit allen, die in unserer Zeit wegen ihrer Herkunft und Ihres Glaubens verfolgt, vertrieben, deportiert und ermordet werden, und mit allen, die immer wieder Hass, Gewalt und Terror ausgesetzt sind und deswegen auch bei uns Hilfe und Schutz suchen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
mit dem Kranz in den Farben unserer Stadt, den wir stellvertretend für die gesamte Bürgerschaft an dieser Stelle niederlegen im Lichte der Wärme und Versöhnung, Hoffnung auf eine bessere Welt und Frieden ausstrahlenden Flammen, setzen wir gemeinsam ein Zeichen der Erinnerung an die Opfer des Holocaust und verneigen uns vor ihnen in ehrendem Gedenken, vor allem auch vor all denen, die einst aktiver Teil unserer Gesellschaft waren, und an die heute im Besonderen erinnert sei.

Wir rufen zugleich sichtbar auf zum Frieden, zur Achtung der Menschenwürde, zu Toleranz sowie zu Weltoffenheit und Mitmenschlichkeit, mithin zu den Werten, für die wir auch in unserer Stadt stehen und die das Zusammenleben bei uns kennzeichnen.

Meine geschätzten Damen und Herren,
bevor ich nun an die Musik und anschließend das Wort an Rabbiner Shlomo Raskin übergeben möchte, lade ich Sie ein, einen Moment in Stille zu verweilen und gemeinsam der Opfer des Wahnsinns der damaligen Zeit zu gedenken.

Unser Gedenken an dieser Stelle wollen wir traditionell beschließen - und ich begrüße hierzu sehr herzlich Benjamin Marokko - mit dem Gebet zum Gedenken an die Opfer des Holocaust „El Male Rachamim“. Zuvor hören wir von ihm das Lied „Eli Eli“. Und im Anschluss an das Gebet lade ich Sie ein ins Rathausfoyer, wo wir unser Gedenken mit Roman Kuperschmidt und seiner Band fortsetzen wollen, der unsere Gedenkstunde bereits als Solist so eindrucksvoll eröffnet und mitgestaltet hat, wofür ich Ihnen herzlich danke.

Das Gedenken fand seine Fortsetzung im Rathaus:

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gehört zu den schlimmsten und beschämendsten Momenten der deutschen Geschichte. Natürlich: Im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte, war sie nur ein Vorbote. Aber ihre Geschehnisse waren auch für sich ein solcher Schlag in das Gesicht von Humanität, Zivilisation und Anstand, dass wir uns an dieses Datum immer wieder erinnern müssen.“

Mit diesen Worten begann Bundespräsident Roman Herzog seine eingangs zitierte Berliner Rede vom 9. November 1998.

Auch wir wollen - und müssen - an die Schande der Pogromnacht erinnern und in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch daran, dass die schändlichen Umgriffe der damaligen Nacht nicht nur um uns herum stattgefunden haben, sondern auch vor Ort - und damit in unserer Stadt - ihren Niederschlag fanden.

In Alzenau wurde die Synagoge schwer beschädigt, sogar mit dem Beil gingen die Verbrecher gegen jüdische Kulturdenkmäler vor, zerrissen die Thora und Gebetsbücher, in der Hausmeisterwohnung im ersten Stock wurden die Betten aufgeschlitzt und der Küchenherd aus dem Fenster geworfen.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 randalierten in Hörstein SA-Leute vor verschiedenen Anwesen, drangen in Häuser ein und es kam zu massiven Misshandlungen jüdischer Bewohner. Überliefert ist der Fall von Julius Hamburger, den die Schergen derart zurichten, dass seine Frau nur schrie: „Lasst ihn gehen, ihr schlagt ihn tot!“

Hasstiraden und gewaltsame Übergriffe gab es bei uns aber nicht erst beginnend mit dem 9. November 1938. Bereits mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 begann auch in Alzenau, die Schande des Terrors gegen die jüdische Bevölkerung um sich zu greifen. Viele Beispiele aus dieser und der Folgezeit sind uns bekannt, die den bis heute unbegreiflichen Wahnsinn der damaligen Zeit, seine Brutalität und Menschenverachtung aufzeigen. Sie machen deutlich, mit welchen Taten die zum Holocaust führende Barbarei auch bei uns ihren Anfang genommen hat.

Daran gilt es, am heutigen Tag schon in Anbetracht dessen zu erinnern, dass nach wie vor in Deutschland und auf der Welt eine antisemitische Haltung in den Köpfen unzähliger Irrläufer existiert, die - gepaart mit einer zunehmenden Verrohung von Teilen der Gesellschaft - immer wieder in Gewalt mündet gegenüber Personen jüdischen Glaubens bis hin zu offenen Aufrufen zur Vernichtung des Staates Israel und zur Auslöschung jüdischen Lebens weltweit.

Diesbezüglich sei daran erinnert: Wir schreiben nicht die Jahre 1933 bis 1945, wir schreiben das Jahr 2016! Nicht nur daran wird deutlich, dass es niemals genug sein kann mit regelmäßigen Erinnerungen, ob im Großen oder ob wie bei uns im Kleinen, an die Verbrechen der Naziherrschaft.

Unsere Form der Erinnerung ist eine „lebendige Form der Erinnerung“, von der Roman Herzog in seiner eingangs zitierten Rede gesagt hat: „Wir brauchen eine lebendige Form der Erinnerung“.

Im Hinblick darauf, dass nicht nur Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bis heute verbreitet sind, sondern dass die Menschenwürde auch im 21. Jahrhundert vielerorts noch immer mit Füßen getreten wird, dass die Gewährleistung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit sowie von Glaubens- und Pressefreiheit noch immer nicht selbstverständlich sind - und das festzustellen, braucht es nicht einmal drei Flugstunden von hier - führt uns die unverzichtbare Notwendigkeit unseres Erinnerns an den Holocaust und das Gedächtnis seiner Opfer vor Augen.

Eine lebendige Form der Erinnerung brauchen wir auch deswegen, weil uns dadurch unser Blick auf die Vergangenheit erhalten bleibt, die uns immer wieder auch die Richtung weist für unser gegenwärtiges wie zukünftiges Handeln.

Dabei kommt unser Blick in die Vergangenheit dieses Jahr nicht aus ohne den Blick auf den Massenmord in der Schlucht von Babyn Jar zu richten, der sich in diesem Jahr zum 75. Mal jährt: Am 29. September 1941 kam es zu einem Aufruf der deutschen Besatzungsbehörden, der in ganz Kiew plakatiert worden war. Darin heißt es unter Bezugnahme auf Auszüge aus der Rede von Bundepräsident Joachim Gauck bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Massenhinrichtung von Babyn Jar am 29. September in Kiew: „Alle Juden der Stadt sollten sich mit Dokumenten, Geld- und Wertsachen sowie warmer Kleidung um acht Uhr an den Friedhöfen am Stadtrand einfinden. Die deutsche Stadtkommandantur drohte bei Zuwiderhandlung mit der Todesstrafe. […]“

„In Babyn Jar zwangen Sonderkommandos, geheime Feldpolizei und Angehörige der Waffe-SS ihre Opfer, sich zu entkleiden, ihre Wertsachen abzulegen, trieben sie mit Schlägen bis an den Rand der Schlucht und erschossen sie, Männer und Frauen, Kinder und Greise, 33.771 Menschen in nur zwei aufeinanderfolgenden Tagen.“

„Unsere Verantwortung liegt darin, aus Zahlen im Tötungsplan des nationalsozialistischen Regimes wieder Menschen, Individuen, zu machen.“

Mit dieser Aufforderung greift Bundespräsident Gauck die Intention auf, die unserem heutigen Gedenken im Besonderen zu Grunde liegt: Nämlich die verfolgten, deportierten und ermordeten Mitbürgerinnen und Mitbürger aus unserer Stadt und damit alle Opfer der damaligen Zeit wieder zum lebendigen Teil unserer Stadt zu machen.

„Erinnerung und Gedächtnis müssen weitergegeben werden. Um der Opfer willen, aber auch um unserer selbst willen. Wer aufrichtig sein will, muss sich seiner ganzen Geschichte stellen, der Geschichte, die im Guten wie im Bösen die Identität des Volkes ausmacht“, fordert Roman Herzog.

Mit unserem Erinnern und Gedenken stellen wir uns unserer Geschichte, wir nehmen sie an als die unsere mit dem Ziel, den Holocaust niemals in Vergessenheit geraten zu lassen - anders als eine große Mehrheit der Deutschen, die sich laut Bertelsmann Studie aus dem Jahr 2015 sieben Jahrzehnte nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz nicht mehr mit dem Holocaust beschäftigen wolle, 58% der Befragten wollten gar einen regelrechten Schlussstrich ziehen.

Diesem unsäglichen Wunsch werden wir nicht entsprechen, weder heute, noch morgen, noch in Zukunft. Schon deswegen, weil unter den Holocaust als der Zivilisationsbruch schlechthin kein Schlussstrich gezogen werden kann. Und weil wir den Blick für das, worauf es auch in der Zukunft ankommen wird - insbesondere auf die Achtung der Menschenwürde - verlieren würden, wenn wir uns unserer Vergangenheit nicht mehr bewusst wären.

„Die Erinnerung muss die Trauer über Leid und Verlust zum Ausdruck bringen, aber sie muss auch“ - und das ist und bleibt unsere besondere Aufgabe und Verpflichtung, „zur steten Wachsamkeit, zum Kampf gegen Wiederholung herausfordern, sie muss Gefahren für die Zukunft bannen.“

„Das Undenkbare ist einmal Wirklichkeit geworden, und damit bleibt es historische Möglichkeit - überall auf der Welt.“ Und mit dieser Aussage hat Roman Herzog ebenfalls recht, was sich umso mehr im Zuge dessen bewahrheitet, dass nach wie Menschen wegen ihrer Religion oder Herkunft verfolgt, verschleppt und ermordet werden.

Umso mehr sind wir alle zur Wachsamkeit und zum Gedenken aufgerufen, auch wenn wir dadurch das Vergangene nicht ungeschehen machen können, aber in jedem Fall nicht unvergessen! Und wir können auch damit mit dafür sorgen, dass das Unfassbare auf immer der Vergangenheit angehört. Die Vergangenheit hat gezeigt, und „die Generation unserer Kinder und Kindeskinder hat keine Anschauung mehr davon, was Willkürstaat, Entwürdigung und Massenvernichtung wirklich bedeuten, wie all diese Scheußlichkeiten nicht auf einmal, sondern Schritt für Schritt, zum Teil in ganz kleinen Schritten, über ein Volk hereinbrechen und wie notwendig es daher ist, auf die kleinen Zeichen am Anfang zu achten.“

Mit Blick auf die Novemberpogrome stellt Roman Herzog zur Reaktion der Bevölkerung fest: „Schon damals waren alle anständig Gebliebenen entsetzt und fassungslos - und doch fanden nur wenige die Kraft zu deutlichen Worten oder gar Taten des Widerstandes oder auch nur der Hilfe.“

Heute finden wir die Kraft zu deutlichen Worten, unser Gedenken ist eine Form des sichtbar und zugleich gewaltfreien Widerstandes, den es aber auch seinerzeit gegeben hat, wenngleich nur in Teilen der Bevölkerung, so waren auch in unserer Stadt nicht alle einverstanden mit dem damaligen abscheulichen Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung - auch daran sei heute erinnert.

An die etwa 400 Deutsche, die heute als Judenretter in Yad Vashem geehrt werden, sei ebenfalls erinnert. Dass sich Israel an diesem für mich einzigartigen Ort der Erinnerung und des Gedenkens, der sich für mich nur schwer bis kaum in Worte fassen lässt, sehr differenziert mit dem Holocaust auseinandersetzt und nicht nur den Opfern ihren berechtigten Platz einräumt, sondern zugleich Raum gibt, denjenigen, die sich auch auf deutscher Seite dem Wahnsinn entgegengestellt und jüdisches Leben gerettet haben, zeigt wie sehr daran gelegen ist, „die Deutschen“ im Angesicht des Holocaust nicht zu pauschalieren.

„Durch Verdrängen, Vergessen, Auf-sich-beruhen-lassen werden wir mit dieser Katastrophe der Zivilisation nicht fertig werden“, bringt es Roman Herzog auf den Punkt. Und das wollen wir auch nicht, sonst hätten wir uns nicht heute wieder zum gemeinsamen Erinnern und Gedenken zusammengefunden, wofür ich Ihnen allen von Herzen danke und was wir mit der Flagge des Staates Israel auf unserem Wahrzeichen der Burg auch weit über Alzenau hinaus sichtbar machen wollen.

Mit unserem vor allem auch individuellen Erinnern an unsere ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger entreißen wir sie der anonymen Masse der millionenfachen Opfer des Holocaust und setzen „die Entwürdigten wieder ins Recht“, um letztmalig Roman Herzog zu zitieren

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
mit dem gemeinsamen Entzünden dieser Kerze wollen wir unser Erinnern und Gedenken auch hier im Inneren Ausdruck verleihen und die damals auch bei uns „Entwürdigten wieder ins Recht setzen“.

Mit der Kerze, die ich gemeinsam mit Rabbiner Shlomo Raskin als Symbol unserer Trauer, als Bitte um Vergebung und als Hoffnung auf eine friedliche Welt entzünden möchte, setzen wir ein Zeichen gegen das Vergessen und verneigen uns noch einmal in ehrendem Gedenken vor allen Opfern des Holocaust und damit auch vor allen 215 ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern unserer Stadt, deren Namen in die Himmelsschale vor dem Rathaus eingraviert sind, und von denen wir wissen, dass sie in der Zeit von 1933 bis 1945 bei uns gelebt haben, verfolgt, oder von hier aus deportiert und ermordet wurden.

Für jede und jeden, die ich heute auch namentlich nennen möchte, werden wir eine Kerze entzünden, wohlwissend, dass die Auflistung der Namen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich darf Sie alle bitten, soweit möglich, sich zum Entzünden der Kerze sowie zur Verlesung der Namen in Erinnerung und zum Gedenken, aber auch aus Respekt vor ihnen und ihren Familien von Ihren Plätzen zu erheben.

Meine geschätzten Damen und Herren,
all die Kerzen mögen spiegelbildlich auch dafür stehen, dass Versöhnung und Aussöhnung Dank des großartigen Engagements unzähliger in Israel und Deutschland - ausgehend von Ben Gurion und Konrad Adenauer - möglich geworden sind, wenngleich aufgerissene Wunden damit nicht verheilen können, und Geschehenes nicht rückgängig gemacht werden kann.

Auch wir in Alzenau erleben immer wieder wunderbare Beispiele dafür, dass sich der vor über 50 Jahren mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen auch offiziell begonnene Prozess der Aussöhnung und Versöhnung erfolgreich gestaltet hat. Das zeigt sich z. B. an den Besuchen von Nachfahren ehemaliger jüdischer Mitbürger oder auch heute wieder an der Anwesenheit von Rabbiner Shlomo Raskin und Benjamin Marokko, der jüdischen Musiker sowie unserer Freunde Simone und Ralph Hofmann, dem Vorsitzenden der B´nai B´rith Franfurt Schönstädt Loge, mit deren Mitgliedern ich regelmäßig Chanukka feiern darf und die wir uns immer wieder zu vielen Begegnungen treffen. Vielen Dank dafür!

Meine verehrten Damen und Herren,
Ihnen allen, die Sie sich heute hier versammelt haben, danke ich nochmals ausdrücklich für Ihr Kommen und wünsche Ihnen und uns sowie allen uns nachfolgenden Generationen, dass wir auch künftig in Frieden leben können und alle Menschen gleich welcher Herkunft und Religion sich stets bei uns willkommen fühlen.

Ich lade Sie nun ein, den Klängen der Band von Roman Kuperschmidt zu lauschen und im Anschluss noch zu einem Umtrunk beisammen zu bleiben. Mögen wir alle gesund und immer auch vor Krieg, Gewalt und Terror verschont bleiben!

17.11.2016 

Kontakt

Stephan Noll
Erster Bürgermeister
Hanauer Straße 1
63755 Alzenau

Telefon06023 502-101
E-MailE-Mail schreiben