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Rede von Bürgermeister Dr. Alexander Legler zur Gedenkfeier für unsere ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger am 24. November 2019

Gedenken vor dem Rathaus

„Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“

Meine sehr geehrte Damen und Herren,
mit diesen Worten und dem damit verbundenen Appell des Holocaust Überlebenden Max Mannheimer an uns und nachfolgende Generationen begrüße ich Sie alle sehr herzlich zu unserer Gedenkstunde, mit der wir gemeinsam der sechs Millionen Opfer des Holocaust gedenken, darunter auch ehemalige Mitbürgerinnen und Mitbürger unserer Stadt.

Ihrer, die auch bei uns unter der Nazi-Barbarei gelitten haben, die auch bei uns verfolgt, von hier aus deportiert und ermordet wurden, wollen wir heute im Besonderen erinnern.

Heute im Jahr 2019 und damit 81 Jahre nach dem Beginn der systematischen Verfolgung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die mit den Novemberpogromen vom 9. auf den 10. November 1938 ihren Anfang genommen und auch bei uns gewütet, Gewalt und unermessliches Leid herbeigeführt haben.

Heute im Jahr 2019 und damit 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, der ausgehend mit dem völkerrechtswidrigen Überfall von Nazi-Deutschland auf Polen am 1. September 1939 seinen grausamen Anfang genommen und rund 60 Millionen Opfer gefordert hatte, „Ein Zehntel der Opfer waren Polen, die Hälfte von ihnen jüdischen Glaubens“.

Zu unserer Form des Gedenkens, mit der wir alljährlich versuchen, dem Appell von Max Mannheimer gerecht zu werden, haben wir uns erneut versammelt an der Stelle, an der jüdisches Leben in Alzenau einst seinen angestammten Platz hatte - in der Mitte unserer Stadt und damit an dem Ort, für den wir uns 2010 entschieden haben, diese von Eva Warmuth aus Wargoldshausen geschaffene Gedenkstele zu errichten. Dort finden sich 215 Namen unserer ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, von denen wir wissen, dass sie in der Zeit zwischen 1933 bis 1945 unter uns gelebt haben, dass sie in dieser Zeit verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Ihre Namen habe ich auch auf das linke der beiden Banner drucken lassen, um sie auch auf diese Weise für uns und alle sichtbar werden zu lassen und um sie damit in den Mittelpunkt unserer Stadt zu rücken, dort wo sie einst gelebt und gewirkt und das öffentliche und gesellschaftliche Leben geprägt und bereichert haben, im Besonderen in Hörstein, in Wasserlos und Alzenau.

Jüdisches Leben bei uns reicht bis mindestens in das 17. Jahrhundert zurück, eine Quelle erwähnt gar das Jahr 1337. Für das heutige Deutschland sei jüdisches Leben erstmals für das Jahr 321 durch Kaiser Konstantin überliefert (so nachzulesen in der Ausgabe der SZ vom 20. November 2019).

Der Naziterror hat seinerzeit jüdisches Leben nach und nach auch bei uns ausgelöscht und zwar nicht erst beginnend mit den schändlichen Pogromen des 9. und 10. November 1938, an die wir heute ebenfalls erinnern wollen, sondern bereits mit der Machtergreifung der Nazis 1933. Schon damals wurden jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger angefeindet und diskriminiert.

Bis heute Zeugnis über jüdisches Leben in unserer Stadt geben der jüdische Friedhof im Stadtteil Hörstein, die Gedenktafel in der Alfred-Delp-Straße sowie die bislang in Hörstein auf dem Platz gegenüber der Kirche stehende jüdische Gedenkstele, die wir künftig dort neu, nämlich in dessen Zentrum, platzieren wollen, und die beide an die damaligen jüdischen Synagogen und die Kultusgemeinde erinnern.

Der Blick auf ihre Namen, die eingraviert worden sind in die als Himmelscheibe ausgeführte und hier 2012 errichtete Erinnerungsstätte, erfordert, dass der Betrachter seinen Kopf senkt. Er symbolisiert damit das sich Verneigen vor den Opfern unserer Stadt. Und wir verneigen uns heute vor Ihnen und vor allen Opfern der Shoah und Ihren Familien, die sie alle unfassbares Leid erfahren haben, das auch Ihre Nachkommen stets begleiten wird.

Unsere Verneigung vor allen Opfern bringen wir symbolisch auch dadurch zum Ausdruck, dass heute die Fahnen in unserer Stadt auf Halbmast wehen mit Ausnahme der Fahne Israels auf unserer Burg, dem Wahrzeichen unserer Stadt, das weit über Alzenau hinaus zu sehen ist, somit auch die Flagge Israels. Als Zeichen dafür, dass die Opfer nicht vergessen sind, und dafür, dass die Opfer stets über den Tätern und somit die Opfer der Shoah über ihren Mördern stehen und jeder einzelne Mord, jede einzelne Mittäterschaft oder sonstige Unterstützungshandlung niemals ungesühnt bleiben darf. Unser Gedenken ist immer auch ein Zeichen unserer Solidarität mit jüdischem Leben weltweit und auch dafür steht die israelische Flagge auf unserer Burg, die sie heute in den Farben Israels, weiß und blau, erstrahlt.

Unsere Fahnen auf Halbmast stehen als Zeichen unserer Trauer und der Mahnung zum Frieden sowie als Aufforderung und uns dauerhaft bindenden Auftrag, mit allen demokratischen Mitteln immer wieder gegen Antisemitismus und jegliche Form von Extremismus, von Hass, Gewalt und Terror einzuschreiten und vor allem immer auch dem menschenverachtenden braunen Terror sowie allen geistigen Brandstiftern die Stirn zu bieten, die auch unser Land mit ihren menschenverachtenden Parolen überziehen, Hass und Gewalt säen und auch damit den Nährboden bilden für antisemitisch und rechtsextremistisch motivierte Taten.

Wir alle haben den Auftrag, regelmäßig an den Wahnsinn der damaligen Zeit zu erinnern, und auch damit dafür zu sorgen „dass es nicht wieder geschieht“, um erneut Max Mannheimer zu zitieren.

So ist unsere Gedenkstätte immer auch ein Ort gegen das Vergessen und damit zugleich ein Ort der Mahnung. Der Mahnung an uns und nachfolgende Generationen mit aller Kraft dafür einzutreten, dass sich die nicht in Worte fassbare Barbarei der Vergangenheit niemals mehr wiederholen kann.

Und ich danke allen, die uns dabei unterstützen und damit zugleich Mut machen, nicht nachzulassen, in unserem Gedenken und Handeln, indem sie den Blick nicht nur gemeinsam mit uns in die Vergangenheit richten, sondern immer wieder positiv und optimistisch auch in die Zukunft blicken. So begrüße ich zu unserem heutigen Gedenken besonders herzlich diejenigen, die unsere Feier ein weiteres Mal mitgestalten: Rabbiner Andrew Steiman und Benjamin Marokko.

 

Lieber Andrew, lieber Benjamin,
bereits Eure Anwesenheit ist nicht nur eine besondere Form der Wertschätzung und Anerkennung unseres Gedenkens, wofür ich Euch beiden außerordentlich dankbar bin. Sie ist immer auch ein ausdrucksstarkes und beispielgebendes Zeichen der Versöhnung und einer über bereits seit vielen Jahren gewachsenen Freundschaft, für die ich Euch auch persönlich sehr dankbar bin und verbinde damit zugleich so viele wunderbare und immer von großer Sympathie, von Wertschätzung und Vertrauen getragene Begegnungen. Wir alle fühlen uns stets sehr geehrt ob Eurer Anwesenheit und Mitgestaltung und freuen uns auf viele weitere Begegnungen mit Euch. Eure Freundschaft ist uns ein großes Privileg, eine große Freude und Auszeichnung gleichermaßen.

Das gilt ebenso für unsere Freundschaft mit der B´nai B´rith Frankfurt Schönstädt Loge e.V. und hier im Besonderen mit ihrem Präsidenten, meinem Freund Ralph Hofmann und seiner Frau und ebenso lieben Freundin, Simone Hofmann, die Du auch schon unser Gedenken auf beeindruckende Weise mitgestaltet hast, und die ich Dich, liebe Simone mit großer Freude willkommen heiße.

Die Zeitzeugin Edith Erbrich, die ich an dieser Stelle sehr gerne begrüßt hätte, kann, ebenso wie Ralph Hofmann, aus gesundheitlichen Gründen leider nicht mit dabei sein. Wir wünschen ihr und Euch von dieser Stelle aus rasche Genesung und ich freue mich, dass ich für sie nun begrüßen darf, den Autor und Journalisten Tim Pröse, der uns im Anschluss über seine Gespräche mit Zeitzeugen berichten wird.

Die musikalische Mitgestaltung übernimmt heute erneut der von uns so geschätzte Roman Kupperschmidt mit seiner Band, die er unser Gedenken bereits musikalisch eröffnet hat, und die Ihr uns im Laufe des Abends noch mit Eurer Musik erfreuen werdet. Auch Euch ein herzliches Willkommen.

Ebenso herzlich willkommen heiße ich für unsere Geistlichkeit unseren Stadt-Pfarrvikar Sebastian Krems und danke, Stadtpfarrer Frank Mathiowetz sowie Pfarrer Johannes Oeters dafür, dass - sie beide können heute Abend nicht mit dabei sein - sie am Volkstrauertag auf meine Bitte hin das zweite Alzenauer Friedensgeläut ermöglicht haben.

Und auch wenn wir heute nicht die Glocken für den Frieden läuten lassen, so ist unser Gedenken ein ebenso starkes wie darüber hinaus unverzichtbares Zeichen für den Frieden. Und ein Auftrag an uns, nicht nur zwischen den Religionen, sondern weltweit Frieden zu halten und dafür auch immer wieder einzutreten, wie es als Wunsch und Aufforderung an uns auch unsere Gedenkstele für unsere ehemaligen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger ausdrückt, indem auf ihr geschrieben steht: Shalom, Friede, Salam.

Für Politik, Justiz, Behörden freue ich mich, begrüßen zu dürfen meinem geschätzten Amtsvorgänger, unseren Altbürgermeister und Ehrenbürger Walter Scharwies sowie unsere Ehrenbürgerin und Dritte Bürgermeisterin a.D. Irene Treffert und die anwesenden Ehrenbürger Helmut Schuhmacher, zugleich unser Zweiter Bürgermeister sowie Rolf Ringert und Burkhard Jung.

Ebenso herzlich begrüße ich für unsere Bildungseinrichtungen den neuen Schulleiter unserer Karl-Amberg-Mittelschule, Herrn Rupert Beck und freue mich, dass Schülerinnen und Schüler dieser wunderbaren Schule unser Gedenken nachher erneut aktiv mitgestalten werden.

Und ich grüße Sie alle von ganzem Herzen und verbinde damit meinen ausdrücklichen Dank an Sie alle, meine sehr geehrten Damen und Herren, für Ihre Teilnahme und das damit verbundene, erneut von unserer Stadt ausgehende positive Zeichen, das für ein friedliches Miteinander bei uns steht, in dem Antisemitismus, Rassismus sowie jegliche Form von Fremdenhass und Extremismus keinen Platz haben. Und das vor allem steht für unser konsequentes und dauerhaftes Eintreten gegen sämtliches menschenverachtendes Gedankengut, aber auch gegen Populismus und Nationalismus in jeglicher Form und damit gegen all das, was auch in unserem Land mehr und mehr und immer wieder offen und ungeniert zu Tage tritt.

Mit unserem Gedenken geben wir auch ein klares Bekenntnis ab für Mitmenschlichkeit, für Toleranz und Respekt, für Respekt vor jedem einzelnen Menschen unabhängig von seiner Religion und persönlicher Glaubensüberzeugung, unabhängig von seiner Herkunft und Nationalität, vor allem für die Achtung der Menschenwürde.

Für die Achtung der Menschenwürde, die von den Nazis mit Füßen getreten wurde und die noch heute vielfach auch von Menschen in unserem Land, jeden Tag, immer wieder, mit Füßen getreten wird, indem sie menschenverachtendes Gedankengut öffentlich kund tun, im Netz verbreiten und Gewalt gegenüber jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern üben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
mit dem Kranz in den Farben unserer Stadt, den wir stellvertretend für die gesamte Bürgerschaft niederlegen, erinnern wir an alle Opfer des Holocaust, wir bitten Sie und ihre Familie um Vergebung und setzen ein Zeichen der Versöhnung und Hoffnung auf eine friedliche Welt. Wir setzen vor allem ein Zeichen gegen das Vergessen. Wir verneigen uns auch damit vor den Opfern, vor allem auch vor denen, die einst aktiver Teil unserer örtlichen Gemeinschaft waren, sie geprägt und sich vor Ort engagiert haben. Und wir rufen zugleich auf zur Achtung der Menschenwürde, zu Toleranz und Weltoffenheit, zu Mitmenschlichkeit und einem Leben in Frieden, und Freiheit, mithin zu Werten, die das gute Miteinander auch bei uns ausmachen.

 

Meine geschätzten Damen und Herren,
bevor ich an die Musik und anschließend das Wort an Rabbiner Andrew Steiman und Benjamin Marokko übergebe, die unser Gedenken an dieser beschließen werden, das dann im Foyer mit Tim Pröse und Roman Kupperschmidt seine Fortsetzung finden wird, lade ich Sie ein, zum Gedenken an die Opfer der Shoah in Stille zu verweilen.

 

Fortsetzung des Gedenkens im Rathaus

„Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
und noch einmal zitiere ich Max Mannheimer, der als Überlebender der Shoah gemeinsam mit seinem Bruder Edgar, am 30. April 1945 von den Amerikanern in Tutzing befreit und damit zugleich ins Leben zurückgeholt worden ist. Seine Eltern, seine Schwester Käthe und der Bruder Ernst sowie seine Ehefrau wurden im KZ von den Nazis ermordet. Max Mannheimer, der als Kaufmann arbeitete und als Schriftsteller und Maler tätig war, verstarb am 23. September 2016 im Alter von 96 Jahren in München. Seit 1990 war er u.a. Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, wo er seinerzeit im KZ, aber nicht nur dort, die Barbarei des Nazi-Terrors erleben musste. (vgl. wikipedia zu Max Mannheimer)

„Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“

Mit dieser Aufforderung, aus der auch eine Pflicht für jede Generation erwächst, an die Opfer des Holocaust zu erinnern, war Max Mannheimer zu Lebezeiten auch als Zeitzeuge unterwegs, um wachzurütteln, um aufzuklären und um zu verhindern, dass sich Vergangenheit wiederholt. Und auch deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind auch wir heute hier. Und auch deswegen kommen wir jedes Jahr hier zusammen, um an die Opfer des Holocaust zu gedenken, um auf diese Weise zugleich die Erinnerung an ihr Schicksal wachzuhalten, und um damit immer wieder deutlich zu machen, zu welcher Barbarei Menschen fähig waren. Und allein die Tatsache, dass dies so geschehen ist, macht bereits deutlich, dass niemals ausgeschlossen werden kann, dass sich der Wahnsinn der damaligen Zeit nicht eines Tages wiederholen kann.

Bei der diesjährigen Verleihung des Theodor-Herzl-Preises an Bundeskanzlerin Angela Merkel vor wenigen Wochen stellte der Präsident des jüdischen Weltkongresses Ronald Lauder folgenden Satz in den Raum: „Nie wieder, hat es geheißen“ und die FAZ stellt diesbezüglich die Frage „Gilt das noch?“

Das haben wir in der Hand, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir, wenn auch natürlich nicht wir allein. Aber eben auch wir sind es, die als Garanten dafür einstehen, dass das „NIE WIEDER“ nicht nur eine Worthülse bleibt, sondern immer wieder neu gelebt wird.

Und nicht erst seit der grausamen Attentate vor wenigen Wochen auf die jüdische Synagoge in Halle und die beiden im Zuge dessen wahllos begangenen Morde an zwei unschuldigen Passanten und nicht erst seit dem rechtsextremistisch motivierten Mord zuvor an Walter Lübcke im hessischen Wolfhagen, bleibt auch unser Bekenntnis zum „NIE WIEDER“ unverzichtbar und eine Aufgabe, der wir uns auch als Gesellschaft dauerhaft werden stellen müssen.

Das gilt für unser Bekenntnis zu jüdischem Leben überall auf der Welt gleichermaßen. Erst recht angesichts der auch in unserem Land weiter zunehmenden Anfeindungen und Angriffen gegenüber jüdischem Leben, das weltweit, auch von Staaten und Terrororganisationen offen und massiv bedroht wird, und die dabei wieder auch das Existenzrecht des Staates Israel leugnen. Doch müssen wir nicht weit blicken, um die Bedrohung jüdischen Lebens zu erkennen: Im Sommer wurden ein Rabbiner und seine beiden Söhne in München Schwabing nach dem Besuch einer Synagoge „Beleidigt und bespuckt“. (Bay. Staatsanzeiger vom 27. September 2019, SZ vom 7. August 2019). In Berlin wurden laut Rias-Jahresbericht 2019 - Rias, das ist die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus - 1.083 antisemitische Vorfälle registriert, „14 Prozent mehr als im Vorjahr“. (Welt Online vom 17. April 2019). Bei einem dieser Vorfälle wurde eine Jüdin, an deren Schlüsselanhänger der David-Stern zu sehen war, von einem Verkäufer unvermittelt angebrüllt mit den Worten „Verpiss dich, du Judenschlampe“ (Welt Online wie oben). Für Bayern verweist Rias auf allein seit April 2019 72 gemeldete judenfeindliche Vorfälle.

Die regelmäßigen rassistischen und antisemitischen Hetzparolen von vor einigen Politikern der AfD, um nur Björn Höcke, Alexander Gauland und Stephan Brandner zu nennen, der zu Recht als Ausschussvorsitzender abgewählt worden ist, sind unerträglich. Ebenso deren Verhalten, sich bei anschließender Kritik an ihren Äußerungen regelmäßig als Opfer zu stilisieren. Eine nur allzu bekannte Masche der AfD. Auch die ständige Berufung auf die Meinungsfreiheit, die selbstverständlich für jedermann gilt, die selbstverständlich auch für unbequeme Themen und Wahrheiten gilt, die selbstverständlich auch für die andere als die eigene Meinung gilt. Aber für eines, meine sehr geehrten Damen und Herren, gilt sie in jedem Fall nicht: für die Leugnung des Holocaust.

Nicht minder verwerflich ist dabei die immer wieder geäußerte Verharmlosung des Holocaust: Wir alle erinnern die unfassbaren Worte von Alexander Gauland, als er vor drei Jahren den Holocaust als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ bezeichnet hat. Und erst vor wenigen Tagen bezeichnete der Mitbegründer der Klimabewegung Extinction Rebellion, Roger Hallam, den Holocaust als für ihn „just another fuckery in human history“, - „nur ein weiterer Scheiß in der Menschheitsgeschichte“.

Sie alle sind geistige Brandstifter, die das Klima in der Gesellschaft vergiften, sie alle sind Menschen, die sich andere zum Vorbild nehmen und sie alle, die so agieren, das sind Menschen, die mit ihren Äußerungen Mitverantwortung dafür tragen, dass der Holocaust verharmlost wird, und dass u.a. auch völlig unpassende Vergleiche zum Holocaust gezogen werden, wie jüngst jemand einen Zaun um einen Parkplatz, nur weil er deswegen etwas länger laufen musste, um zum Ziel zu kommen, mit einem Zaun um ein KZ verglichen hatte mit Worten: „Hier ist man eingesperrt wie in einem KZ“. Auch daran sieht man, selbst wenn ich diesem Menschen mitnichten eine menschenverachtende Haltung unterstelle, wie leichtfertig Vergleiche mit dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte gezogen und wie leichtfertig mit dem größten Menschheitsverbrechen umgegangen wird. Das wiederum mehr und mehr zur ohnehin schon vielfach erforschten Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust führen kann.

„Jeder vierte Deutsche denkt antisemitisch“ - lautet die Titelzeile der SZ vom 24. Oktober 2019, die sich auf eine Studie des jüdischen Weltkongresses stützt. Und ich habe ein Beispiel dafür erlebt: Ich traf auf eine Gruppe von vier Männern, die ihrem Hobby nachgingen. Einen davon kannte ich, weswegen ich auf die Gruppe zugegangen bin, lediglich, um „Guten Abend!“ zu sagen. Daraufhin sprach mich einer der anderen unvermittelt an mit den Worten: „Ihr mit Eurem jüdischen Zeug“. Und er stellte mir u.a. die Frage: „Wissen Sie, warum die Juden verfolgt wurden?“ Ich war wirklich erschüttert in diesem Moment und musste sofort an die Umfrage denken. Ich war dabei der Frage massiv entgegenzutreten, allerdings ließen uns die anderen drei wissen, dass es reicht, und sie in Ruhe weiterspielen wollten. Auch hier unterstelle ich den anderen drei mitnichten Antisemitismus.

Das für mich Erschütternde daran ergab sich aber in zweierlei Hinsicht: Erstens, dass eine solche Frage überhaupt gestellt worden ist und zweitens, dass alle anderen darüber aus meiner Sicht völlig gleichgültig darüber hinweg gegangen sind, statt den anderen in die Schranken zu weisen.

Und auch deswegen ist unser alljährliches Gedenken so unverzichtbar als Kampf auch gegen die nachweislich bestehende Gleichgültigkeit, die am Anfang zu stehen droht eines von vielen immer wieder gewünschten Schlussstriches unter unsere Vergangenheit. Das dürfen wir nicht zulassen, ebenso wenig, dass sich in unserem Land jüdisches Leben nicht ungehindert, nicht ohne Angst, Furcht und Sorge entfalten und zeigen kann. Dazu braucht es neben unserem Gedenken noch mehr an Aufklärung, gerade auch an unseren Schulen und noch mehr an Möglichkeiten, jüdisches Leben näher zu bringen. Ideen hierzu haben wir viele. Und dennoch bleibt es für mich mehr als erschreckend, dass man sich überhaupt darüber Gedanken machen muss und das gerade einmal 81 Jahre nach den Anfängen des Terrors gegen jüdisches Leben, 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges.

Aber, auch das sei betont: Bei allen Schreckensmeldungen gibt es immer auch sehr viele Mut machende Beispiele, unser Gedenken ist eines davon. Ein anderes war erst gestern zu sehen, als sich in Hannover bei einem rechten Aufmarsch der NPD von rund 110 Personen rund 7.000 Menschen dagegen auf die Straße gegangen sind. Und solche Vorbilder haben wir auch vor Ort z.B. die Schülerinnen und Schüler, der Karl-Amberg-Mittelschule, die unser Gedenken mitgestalten, oder Edith-Stein Realschule, die seit Kurzem aufgrund einer Selbstverpflichtung der Schulfamilie u.a. gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus einzutreten, mit dem Titel „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“, so im Übrigen auch das Spessart-Gymnasium, ausgezeichnet worden ist als Schule Nummer 223 in Bayern und 647 in Deutschland. Auch das macht Mut!

Und diesen Mut, vor allem aber auch diese Courage und eine damit verbundene Geisteshaltung braucht es, um Antisemitismus und Rassismus auch nachhaltig die Stirn zu bieten. Hierzu hat der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster am 10. Juli 2019 auf einem Fachtag in München mit dem Titel „Antisemitismus - Hinschauen vor Ort“ sehr zutreffend formuliert: „Ich bin überzeugt, wenn sich in einer Stadt oder Gemeinde viele aktiv gegen Antisemitismus engagieren, wenn die Bürger spüren, dass von den Verantwortlichen hingeschaut wird, dann sind auch sie selbst eher dazu bereit. Denn das ist es, was wir letztlich am meisten brauchen: Zivilcourage unserer Bürger. Die Bereitschaft hinzuschauen und zu handeln.“

Und dazu zählt auch unser Gedenken, mit dem wir allen ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sowie allen Opfern des Holocaust ihre Heimat und im Besonderen ihre Würde und Persönlichkeit zurückgeben wollen, die ihnen die braunen Schergen auf das Schändlichste genommen haben. Auch das bleibt uns eine dauerhafte Verpflichtung, der wir uns mit unserem jährlichen Gedenken stellen, mit dem wir zugleich Eintreten für ein friedliches Miteinander der Völker, der Religionen und Kulturen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir vor Ort haben diesen Weg längst beschritten, auf dem wir weiter gehen wollen und werden, denn Menschen können sich und andere jederzeit verändern. Beispiele hierfür gibt es genug. Und diesen Weg in die Zukunft zu tragen, dass sind wir nicht nur den sechs Millionen Opfern der systematischen Massenvernichtung durch die Nazis schuldig. Diesbezüglich stehen wir auch in der Verantwortung gegenüber ihren und unseren Nachkommen, gegenüber allen Menschen jüdischen Glaubens weltweit.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
mit dem gemeinsamen Entzünden all dieser Kerzen wollen wir unserem Erinnern und Gedenken an die Opfer des Holocaust auch hier im Rathaus Ausdruck verleihen und die damals auch bei uns „Entwürdigten wieder ins Recht setzen“ wie es Roman Herzog einst so zutreffend formuliert hat. Mit der großen Kerze, die wir nun anstecken werden, und die in den nächsten Wochen hier im Rathaus brennen wird, setzen wir auch über den heutigen Abend hinaus ein Zeichen des Gedenkens, gegen das Vergessen und für das „Nie wieder“!

Für unsere ehemaligen 215 Mitbürgerinnen und Mitbürger werden wir anschließend ebenfalls je eine Kerze entzünden und Sie damit zumindest für den Moment wieder ins Leben zurückholen und ihnen ihren geraubten Platz in der Mitte unserer Stadt wieder zurück geben, so beispielhaft auch dem bekannten Lehrer und engagierten Alzenauer Bürger Benzion Wechsler, der 1943 in Sobibor von den Nazis ermordet worden ist. Den gemeinsamen Reisepass von ihm und seiner ebenfalls ermordeten Frau Sofie halte ich hier in den Händen, ein sehr beklemmendes Gefühl verbindet mich damit. Dieser und andere Pässe und Kennkarten wurden mir übergeben von Oded Zingher, der sie wiederum erhalten hat von Pfarrer Heinz Daume aus Großkrotzenburg, dem die Dokumente anonym zugespielt worden sind und die ich Sie, lieber Herr Pfarrer Daume, herzlich begrüße.

Die 215 Namen, die uns die Schülerinnen und Schüler unserer Karl-Amberg-Mittelschule als immer auch exzellente Friedensbotschafter für unsere Stadt nun verlesen werden, erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eine weitere Kerze wollen wir schließlich für all diejenigen entzünden, die - auch in unserer Stadt - nicht einverstanden waren, mit dem Wahnsinn der damaligen Zeit, für all diejenigen, die unter Lebensgefahr ihren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern geholfen haben, sich zu verstecken oder zu fliehen und für all diejenigen, die sich damals dem Nazi-Regime im Widerstand entgegen gestellt haben und dafür mit dem Leben zahlen mussten. Beispielhaft dafür möchte ich heute erinnern an den damals 35-jährigen Schreinergesellen Georg Elser, der am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe gezündet hatte, die Hitler töten sollte, was jedoch deswegen misslungen war, weil er entgegen seiner Art kürzer geredet hatte als sonst. Georg Elser wurde kurz vor Kriegsende in Dachau ermordet.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich darf Sie nun alle bitten, sich - soweit möglich - zum Entzünden der Kerzen und der Verlesung der Namen von ihren Plätzen zu erheben - aus Respekt vor ihnen und allen Opfern des Holocaust.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich danke Ihnen, dass Sie sich von Ihren Plätzen erhoben haben, auch zu Ehren und im Gedenken an den Zeitzeugen Max Mannheimer. Begeben wir uns nun gemeinsam mit dem Autor und Journalisten Tim Pröse auf eine Reise zu Zeugen der damaligen Zeit, zu Zeugen der unfassbaren Vernichtung in den Konzentrationslagern der Nazis, denen Tim Pröse begegnet ist und diese Erlebnisse er zusammenfasst unter dem Titel „Jahrhundertzeugen - Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler“.

Im Anschluss wollen wir mit einigen Stücken von Roman Kupperschmidt und seiner Band unser Gedenken ausklingen lassen und dieses erneut abschließen mit dem Lied „Hevenu Shalom Alechem“ - „Wir wollen Frieden für alle“!

Lieber Herr Pröse,
ich darf Sie nun auf die Bühne bitten. Ihnen allen danke ich für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit und schließe mit einem letzten Zitat aus der Ansprache von Josef Schuster, die er mit folgenden Worten beendet hatte: „Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: ‚Ein Land ist nicht nur das, was es tut - es ist auch das, was es verträgt, was es duldet.‘ Für Antisemitismus“ - so Schuster - „darf es niemals eine Duldung geben!“

Kontakt

Stephan Noll
Erster Bürgermeister
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63755 Alzenau

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